Caro liest laut: Reserve von Prinz Harry - Vergiss Mein Nie

Caro liest laut: Reserve von Prinz Harry

Das Buch: Reserve von Prinz Harry

Trauer-Topic: Verlust eines Elternteils / Erwartungen an Trauer / kollektive Trauer 

Trauer-Barometer: 1,5/5 (gut verdaulich) 

 

Wie lässt es sich als Kind und als Erwachsener verkraften, wenn die Mutter stirbt? Und was passiert, wenn dir die ganze Welt dabei zuschaut? Genau das sind eben nicht die zentralen Fragen in Prinz Harrys Buch “Reserve”*. Es ist kein klassisches Buch über Trauer. Und trotzdem (oder genau deshalb) möchte ich es euch ans Herz legen. 

 

Der Tod von Lady Di (Diana, Princess of Wales und erste Ehefrau des damaligen Prinz Charles) war ein prägendes Ereignis der 90er Jahre, mit nachhaltigem Einfluss auf die Popkultur.

Das ist wichtig zur Einordnung, doch darum soll es hier gar nicht wirklich gehen. Denn “Reserve” ist kein Buch über das Leben oder gar den Tod von Prinzessin Diana – davon gibt es einige andere Werke. In Reserve begleiten wir einen Angehörigen durch sein Leben, der mit diesem Verlust umgehen muss. Es ist nicht irgendein Angehöriger, es ist einer ihrer beiden Söhne. Die Rede ist von Prinz Harry, der seine Mutter mit 12 Jahren durch einen Autounfall verliert. 

Der Punkt ist: Prinz Harry hat in seiner Biografie einiges mehr zu besprechen, als “nur” den Verlust seiner Mutter. Und genau das macht er auch. In das Buch einzutauchen gibt einem nicht das Gefühl, dass Harry mit dieser Biografie einen verarbeitenden Schreibprozess zum Umgang mit seiner Trauer angestoßen hat. Eigentlich ist sogar immer wieder das Gegenteil der Fall: Für mich persönlich hat es sich manchmal angefühlt, als wäre der Part mit der Trauer drin, weil er halt nicht aus der Geschichte wegzudenken ist. Ein bisschen widerwillig. Ja, der Verlust muss auch angesprochen werden, denn er ist (und bleibt) ein Teil von Harrys Leben. 

 

“Ich vermute, dass ich tief in meinem Inneren die Wahrheit kannte. Die Illusion, dass Mummy sich versteckte und ihre Rückkehr vorbereitete, war nie so real, dass sie die gesamte Wirklichkeit auslöschen konnte. Aber sie verdunkelte sie genug, sodass ich den Großteil meiner Trauer hinausschieben konnte. 

Ich hatte noch immer nicht getrauert, bis auf das eine Mal an ihrem Grab noch immer nicht geweint, noch immer nicht die reinen Fakten verarbeitet. Ein Teil meines Hirns wusste Bescheid, doch ein anderer Teil war komplett isoliert, und die Trennung zwischen diesen beiden Teilen sorgte dafür, dass das Parlament meines Bewusstseins geteilt, polarisiert, festgefahren blieb. Ganz so, wie ich es wollte.” (S. 135 im Ebook) 

 

Und da sind wir auch schon bei einem zentralen Trauerthema in dem Buch: Der Blick von außen auf die Trauer der Angehörigen.

Und da sind wir auch schon bei einem zentralen Trauerthema in dem Buch (das besonders ist, weil es in dieser extremen Ausprägung nicht dem Standard-Erleben der meisten Trauernden entspricht und trotzdem fast immer auftaucht): Der Blick von außen auf die Trauer der Angehörigen. Im Falle von Prinz Harry passiert das in einer kaum vorstellbaren Dimension. Die Öffentlichkeit interessiert sich für den Trauerfall. Mehr als das. Für eine lange Zeit nach dem Tod von Lady Di scheint die Welt ihre Aufmerksamkeit kaum auf etwas anderes richten zu können (Stichwort: kollektive Trauer). Die Öffentlichkeit befindet sich selbst in einem Schockzustand und verfällt wie selbstverständlich in einen anhaltenden Beobachtungsmodus. Wie sieht die Trauer von Prinz Harry und der Royal Family aus? Wie sollte Trauer eigentlich aussehen? Passt das zusammen? Wie trauert man(n) richtig? Wie weit sind nach außen getragene (oder eben nicht sichtbare) Emotionen für einen 12-Jährigen in Ordnung und welches Maß an Trauer schickt sich Jahre später für einen erwachsenen Mann? Es gibt keine richtige Antwort. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man lapidar dazu sagen: Egal wie man’s macht, irgendwas ist ja immer. Prinz Harry bleibt nichts anderes übrig, als diese anhaltende Beobachtung und Einschätzungen über die eigene Trauer über sich ergehen zu lassen – von außen genauso wie aus sich selbst heraus. 

Wer sich mit Trauer beschäftigt, kommt genau an diesem Thema nicht vorbei. Verschiedene Kulturen haben (verschiedene) Vorstellungen davon, wie Trauer auszusehen hat.

Weichen Trauerreaktionen davon ab, ruft das Irritationen hervor. Zu viel, zu wenig, zu laut, zu leise? Das geht doch nicht. Natürlich steht aber auch nirgendwo geschrieben, wie die “korrekte” Trauer sich bitte darstellt. Wo ist das Handbuch, das alle wichtigen Checklisten zum gemeinhin akzeptierten Trauern bereithält? Das klingt doch absurd, dass Trauernde auch noch Erwartungen erfüllen müssen, oder? Aber so fühlt es sich oft genug an – und das ist Schwerstarbeit, wenn das ganze System auf Kapazitätsstufe “den Tag überstehen” läuft, und zwar über Wochen und Monate hinweg. 
 

Prinz Harry schreibt über diese Dinge. Stellenweise. Immer mal wieder. Sie sind Teil seines Lebens. Immer wiederkehrend. Er berichtet von Schuldgefühlen über seine lange anhaltend ausbleibenden Tränen zum Verlust seiner Mutter. Er bringt uns seine Irritation über diesen unkontrollierbaren Zustand der Taubheit ganz nah und sucht den Vergleich im Außen: Wieso kann eine ganze Menschenmenge aus Tränen bestehen, während er selbst zu keiner einzigen imstande ist? 

 

“Willy und ich gingen an der Menschenmenge draußen vor dem Kensington Palace auf und ab, lächelten, schüttelten Hände. Als würden wir uns um ein öffentliches Amt bewerben. Aberhunderte Hände wurden unablässig in unsere Gesichter gehalten, oft mit feuchten Fingern. Feucht wovon?, rätselte ich.  Von Tränen, wurde mir klar.  Mir missfiel, wie sich diese Hände anfühlten. Mehr noch verabscheute ich, wie ich mich ihretwegen fühlte. Schuldig. Warum weinten alle diese Leute, während ich es nicht tat und auch nicht getan hatte?” (S. 45 im Ebook) 

 

In der Biografie von Prinz Harry begegnen wir nicht der Trauer, wie sie (wortwörtlich) oft im Buche steht. Seite über Seite präsent und besprechbar, voll mit Worten, die jegliche Ausprägungen der Gefühlswelt zum Ausdruck bringen. Und genau damit transportiert dieses Buch für mich eine der wichtigsten Erkenntnisse, die es über Trauer zu sagen gibt: Die Trauer geht nicht weg. Sie bleibt. Schwingt mal lauter und mal leiser mit. Über unsere ganze Biografie hinweg – auch wenn wir uns das nicht aussuchen konnten. 

 

“Dann erzählte er, dass seine Mutter vor zehn Jahren gestorben sei, er aber noch immer um sie trauere. Ich hätte ihm gern gesagt, dass es besser wird. Ich tat es nicht.” (S. 739 im Ebook) 

 

Ich persönlich finde den umfassenden Einblick in das Leben von Prinz Harry, in das Leben der Royals und seines mittendrin, am Rande dessen und auf der Suche nach dem eigenen Platz wahnsinnig spannend. Ganz ohne Interesse an dem Royal Life oder an Prinz Harry als Person, wird es wahrscheinlich anstrengend, sich die 512 Seiten zu Gemüte zu führen. Aber für alle, die sich durchaus vorstellen können, eine Weile an der Seite von Prinz Harry (und natürlich später auch Meghan Markle) zu verbringen – es lohnt sich! 

 

Hier findest du "Reserve" von Prinz Harry bei Thalia.*

 

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Carolin Junge 

Caro ist ein kreatives Mastermind mit ganz viel Herz, das ganz besonders laut für Bücher schlägt. Da kommen mal locker 50 gelesene Bücher im Jahr zusammen – nur noch getoppt vom Stapel ungelesener Bücher, der einfach nicht aufhören will zu wachsen. Mit ihrem Unternehmen oh boy! und als Fachbuch-Autorin hat sie sich im Branding & Storytelling einen Namen gemacht. Als ausgebildete Trauerbegleiterin (VMN) hat sie außerdem das Büro Ciao gegründet, einen Creative Space in Sachen Trauer. Damit bringt sie frischen Wind und mehr Awareness in die staubtrockene Trauerkultur. Mit ganz neuen, kreativen Trauerprojekten holt sie das Tabu-Thema unter dem viel zu hohen Teppich hervor (Stay tuned!) und bringt Menschen dort mit Tod und Trauer in Berührung, wo es auf den ersten Blick "eigentlich gar nicht hingehört".

     

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