Caro liest laut: KURT von Sarah Kuttner – ein Roman über Trauer, Verlust und Familie

Caro liest laut: KURT von Sarah Kuttner – ein Roman über Trauer, Verlust und Familie

Das Buch: KURT von Sarah Kuttner

Trauer-Topic: Tod eines Kindes / Elterntrauer / Rollen in der Familienkonstellation neu finden / Wem steht welche Trauer zu? / Dasein 

Trauer-Barometer: 4/5 (geht nahe) 

 

„Kurt“ von Sarah Kuttner* ist kein leiser Trostspender, sondern ein Roman, der Trauer spürbar macht: ehrlich, nah, ohne Kitsch. Sarah Kuttner erzählt von Verlust, Patchwork-Familie und der Frage, wie man weiterlebt, wenn das Undenkbare passiert. Eine Rezension über Sprache, Figuren und Wirkung – und darüber, warum Trauerliteratur manchmal genau dort hilft, wo Worte fehlen.

 

Worum geht es in „Kurt“?

Kurt kommt mit dem Vorschlaghammer um die Ecke. Das meine ich im übertragenen Sinne, nur damit hier keine Missverständnisse entstehen. Niemand hat im Buch einen Vorschlaghammer in den Händen, besonders nicht der kleine Kurt. Der ist nämlich eine der Figuren des Buches, ein Kind mit wackeligen Milchzähnen. Um euch zu erklären, warum das Buch ein wahnsinnig intensiver Roman über Trauer, Verlust und Elternliebe ist, muss ich vorwegnehmen, was passiert. Der kleine Kurt stirbt. Unerwartet. Und die Familie muss von jetzt auf gleich damit umgehen lernen. Dass die Familie sich in einer getrennte-Eltern-mit-neuen-Partner:innen-Konstellation bewegt, macht die Geschichte für mich umso nahbarer. So ist das mittlerweile eben öfter, solche Geschichten müssen auch erzählt werden.

Und wie die Geschichte erzählt wird. Da sind wir wieder beim Vorschlaghammer – manchmal haben Sarah Kuttners Worte ne echte Wucht. Oft sind sie unaufgeregt, gefühlvoll, traurig, mal zaghaft und immer wieder humorvoll. Das ist so abwechslungsreich wie die Holzachterbahn der Trauer, die auf wackeligen Streben dahin rast. Ein Konstrukt, das irgendwie hält, was es verspricht, aber auch gut und gerne mal ins Wanken gerät und sich seltenst richtig stabil anfühlt. Mindesthaltbarkeitsdatum: to be defined.

 
“Kurt ist Grabprofi. Er hockt sich an den Baum seines Sohnes, streicht über das Gras am Stamm, tätschelt den Baum leicht, als würde er gleich “guter Junge!” zu ihm sagen. All seine Bewegungen sind organisch, natürlich, sanft. Meine Bewegungen sind nicht existent. Steif, wie eine noch zu habende Buche, stehe ich hinter Kurt und starre auf Kurts Namenstafel.” (S. 127 im Ebook) 

 

Figuren und Beziehungen – Trauer in der Patchwork-Familie

Jedenfalls wird die Kurt-Geschichte von Lena erzählt. Die neue Freundin vom großen Kurt. Der ist der Papa vom kleinen Kurt. Für Lena sind sie ein ganzer und ein Halbtagskurt. Wenn Kurt nicht bei der Mama ist, wohnen die drei nämlich alle zwei Wochen zusammen in dem Häuschen im Brandenburger Land, in das der große Kurt und Lena gerade erst umgezogen sind. 

Häuschen auf dem Land, gärtnern und sich gemeinsam zwischen Umzugskartons einfinden. Wenn man gerade meint, dass die Geschichte so alltäglich und relatable dahin plätschert (und wie ich den Klappentext nicht aufmerksam gelesen hat – was euch nicht passieren kann, weil ich ab hier höchstwahrscheinlich anfangen werde, zu spoilern.), dann kommt dieser oben erwähnte Vorschlaghammer zum Einsatz. Ich sag’s euch. Der haut einfach drauf. Richtig mit Schwung, von da wo du den gar nicht kommen sehen konntest. Kurt fällt vom Klettergerüst und stirbt. Das hat mich persönlich so getroffen, dass ich fassungslos und wütend mein Buch zugeknallt habe. Nein!  

Wisst ihr, was ich krass finde? Wie man als Autorin diese Schockreaktion bei der völlig abgetauchten Leserin auslösen kann. Rausgerissen aus meinem cozy Lese-Life hat sie mich – mit ihren Worten, ihrer Stilistik. Mit dem, was urplötzlich passiert ist. Absolut unvorbereitet. Und hat damit bei mir ein Gefühl ausgelöst, was ihre Geschichte unterstreicht. Nein, nein, nein! Das ist nicht passiert. Das darf nicht passiert sein. Das ist nicht okay. So will ich das jetzt nicht weiterlesen! 


Themen, die nachhallen Trauer, Schuld und das Weitermachen

Ich habe doch weitergelesen. Das ist die Geschichte. Ich kam da nicht mehr raus. Und noch viel weniger raus kamen da Lena, der große Kurt und die Mutter vom kleinen Kurt. Die drei müssen sich einmal komplett neu sortieren. Große Kluften tun sich auf, alte Fäden machen Anstalten, sich wieder ineinander zu verwurschteln. Und mittendrin ist Lena, die ihre Rolle in der neuen Familienkonstellation doch eh gerade noch ausloten musste. Lena, die sich jetzt umso mehr im Findungs- und Gedankenwirrwarr wiederfindet. Zwischen: Welche Rechte und Pflichten habe ich hier, wie trauerberechtigt bin ich? Darf ich Kurt so doll vermissen? Kann man trotzdem für jemanden da sein, wenn keinerlei Trost in Sicht ist? Und wenn ja, wie denn?   

 

“Ich war nicht auf der Beerdigung. Sie war klein, es waren ausschließlich Verwandte da. Also Kurt und Jana, beide Großelternpaare, Janas Bruder aus Franken. Ich hatte Kurt gefragt, ob ich teilnehmen soll, kann, darf. Wieder wusste ich weder um Rechte noch Pflichten. Aber Kurt wusste es noch weniger, war zu zerschlagen, um das ganze Sollen, Können, Dürfen auseinanderzudenken. Er fand keine Worte, hatte keine Wünsche, äußerte keine Bedürfnisse. Also blieb ich zu Hause. Aber ich redete mir das halbwegs erträglich: Von zu Hause aus könnte ich eine bessere Stütze sein. Ich würde Kurt mit Liebe und Wärme und Obstler empfangen, wenn er diesen schlimmen Tag final hinter unserer Haustür lässt. Aber Kurt kam gar nicht nach Hause. Auch später hat Kurt mich nicht gebeten, ihn in den Friedwald zu begleiten. Erst heute, vier Wochen nach Kurts Beisetzung, fast sechs nach seinem Tod, darf ich hier sein. Werde ich dem toten Kind offiziell als Trauerberechtigte vorgestellt.” (S. 117 im Ebook 

 

Mein Fazit: ein Buch über Trauer, das tröstet und wehtut

In “Kurt” geht es um das Suchen und vielleicht auch um das Finden. Vor allem geht es aber um das Leben im engen Trauer-Spinnennetz, das sich plötzlich über den üblichen Alltags-Hustle gelegt hat und hinten und vorne zwickt und drückt. Es geht darum, dass solche Netze wie verrückt kleben, sodass man sie selbst nicht einfach abstreifen kann und miteinander doch immer wieder Klebefläche findet, auch wenn sonst alles vom Normalzustand abgerückt ist. Und es geht darum, ob es irgendwo und irgendwann wieder ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit geben kann, auch wenn das Netz einfach mitkommen will. Vor, zurück, zur Seite, ran. „Kurt“ von Sarah Kuttner ist mehr als eine Geschichte über den Tod eines Kindes – es ist ein ehrlicher Roman über Trauer, Liebe und Weiterleben.

 

Hier findest du "Trauer ist das Glück, geliebt zu haben" von Chimamanda Ngozi Adichie bei Thalia.*

 

 

 

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Carolin Junge 

Caro ist ein kreatives Mastermind mit ganz viel Herz, das ganz besonders laut für Bücher schlägt. Da kommen mal locker 50 gelesene Bücher im Jahr zusammen – nur noch getoppt vom Stapel ungelesener Bücher, der einfach nicht aufhören will zu wachsen. Mit ihrem Unternehmen oh boy! und als Fachbuch-Autorin hat sie sich im Branding & Storytelling einen Namen gemacht. Als ausgebildete Trauerbegleiterin (VMN) hat sie außerdem das Büro Ciao gegründet, einen Creative Space in Sachen Trauer. Damit bringt sie frischen Wind und mehr Awareness in die staubtrockene Trauerkultur. Mit ganz neuen, kreativen Trauerprojekten holt sie das Tabu-Thema unter dem viel zu hohen Teppich hervor (Stay tuned!) und bringt Menschen dort mit Tod und Trauer in Berührung, wo es auf den ersten Blick "eigentlich gar nicht hingehört".

     

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