Caro liest laut: Der Mauersegler von Jasmin Schreiber

Caro liest laut: Der Mauersegler von Jasmin Schreiber


Das Buch: Der Mauersegler von Jasmin Schreiber

Trauer-Topic: Tod des besten Freundes, Schuldgefühle in der Trauer 

Trauer-Barometer: 4/5 

 

Der Mauersegler ist etwas ganz Besonderes. Damit meine ich dieses Buch*. Und genauso meine ich das Tier. Wusstest du zum Beispiel, dass ein Mauersegler 10 Monate im Jahr ununterbrochen fliegen kann? Hier nimmt er uns mit auf seinen Flug, gleitet leichtfüßig durch eine verworrene Trauerlandschaft, die sich über 240 Buchseiten zieht. Darin verbirgt sich Trauer um den besten Freund und ein solch immenses Ausmaß an Schuldgefühlen, dass selbst der stärkste Rücken unter so viel Gewicht geneigt wäre, sich zu verbiegen. Ein wahnsinnig schön-schwerer Roman, in dem mehr Bilder zwischen den Textzeilen hängen, als an den Wänden so manch einer Galerie. 

Beim Aufschlagen des Buchs prallen wir förmlich mit Prometheus, dem Protagonisten des Buchs, zusammen. Keine leichten Mauersegler-Vibes fürs Erste, sondern direkte Konfrontation mit der harten Realität. So ist es mit der Trauer ja auch oft. Seichter Einstieg? Eher nicht. Prometheus befindet sich in der Trauer um seinen verstorbenen Freund an einem Tiefpunkt, irgendwo am Rande dessen, wo es für ihn gefühlt nicht mehr weitergeht. Wie sich herausstellt, plagen ihn Schuldgefühle, weil er – der Arzt – den Tod seines Freundes Jakob nicht verhindern konnte. Weil er tiefer in dessen Krankengeschichte verwickelt ist, als nur ein Freund zu sein, der tatenlos zusehen muss. Wobei er dennoch auch die Rolle des Freundes innehat, der tatenlos zusehen muss.  

“Prometheus schloss die Augen. Das alles würde er nie wieder erleben, die sich vor Freude überschlagende Stimme Jakobs nie wieder hören, sein Schielen nicht sehen, wenn Jakobs Augen müde wurden, er aber mal wieder seine Brille verlegt hatte. Dafür hatte er gesorgt!” (S. 56) 

 
Wie soll man unter dieser Last des Erlebten noch aufrecht stehen, ständig behängt und runtergezogen von dieser Schwere? Mit dieser Frage kämpft Prometheus über den kurzweiligen Handlungsverlauf hinweg, während er immer wieder zwischen Gestern und Heute springt – ein typisches Erleben in der Trauer. Plötzlich gibt es ein Davor und ein Danach, zwischen denen der Trauernde eine Zeit lang willkürlich hin- und hergeworfen wird. Und Jasmin Schreiber sorgt dafür, dass auch wir Leser*innen am eigenen Leib erfahren, wie sich das anfühlt. Von Kapitel zu Kapitel springen auch wir in der Zeit. Erst sind wir im Jetzt, in dieser starrköpfigen Zeit nach dem Verlust, mit ein paar Leerzeichen zu viel. Und zwischenrein gleiten immer wieder die Erinnerungen, die uns mit Prometheus zusammen in das Vorher zurückziehen. Dahin, wo die Leerzeichen noch Ausrufezeichen waren. In die Zeit mit Jakob. Unerbittlich zehrt dieses Pendeln an den Kräften, lässt nicht los und sich schon gar nicht einplanen. Manchmal scheint es sogar schelmisch sagen zu wollen: “Surprise, da bin ich schon wieder mit einer neuen Erinnerung!” Und das, was vorher die Höhepunkte waren, verkehrt sich jetzt zum Gegenteil. 

“An die Gefahr denkt man nicht, wenn man sich im Davor befindet. Doch das alles, all diese schönen Momente, all diese Liebe und Nähe und die riesigen Lawinen voll Glück sind das, was einem im Danach das Herz herausreißen wird.” (S. 161) 

Was ich an diesem Buch so bemerkenswert finde: Es ist in seiner Geschichte nicht besonders tröstlich. Aber besonders ist es. Und das ist wiederum tröstlich.

Wie viel sprachliche Schönheit kann eine Autorin um dieses große, schwarze Loch namens Trauer bitte herumbauen? Jasmin Schreiber schafft es, dem schwer zu Beschreibenden, dem, was oft nicht in Worte zu fassen ist, mit einer visuellen Ebene auszuhelfen. In Textform. Und packt die Bilder dieser Serie in ihren Diaprojektor aus Worten und Zeilen. Immer wieder begegnen uns dabei zwei zentrale Bilder, die Prometheus Gefühlswelten zum Ausdruck bringen – der Mauersegler, der sich mit leisen Flügelschlägen durch die Seiten dieses Buchs bewegt, und das Meer. 

“Die Zeit breitete sich wie ein endloser Teppich vor Prometheus aus, und er versuchte krampfhaft, seine Gedanken an irgendetwas zu hängen, das nicht mit dem Ablauf von Sekunden, Minuten und Stunden zu tun hatte. Vielleicht ist es kein Teppich, dachte Prometheus (es klappte nicht), vielleicht eher ein Zeitmeer voller Sekundenfische und Stundenwale, ein grenzenloses Gewässer, das mich verschlingen will, das sich kalt und endgültig anfühlt.” (S. 91) 

“Ein Mauerseglerleben findet hauptsächlich in der Luft statt. Bodenkontakt ist etwas Außergewöhnliches, fast schon ein Versehen, eine Störung der Ordnung, manchmal eine lästige Notwendigkeit. Unangenehm. (...) Menschen träumen vom Fliegen, wovon träumt dann wohl ein Mauersegler? Vom Gehen? Vielleicht vom Fallen, so wie ein Mensch, wenn er an der Grenze zwischen Wachsein und Schlaf oszilliert.” (S. 21) 

Und weil Prometheus so sehr in seiner Trauerblase verschwunden ist, bemerkt er gar nicht, wie viel er mit diesen beiden fremden Frauen gemeinsam hat, auf die er plötzlich trifft. Aufgenommen in ihrem Haus, ist er an einem Ort angekommen, an dem die Trauer bereits vor seinem Besuch wohnte. Still und heimlich im Nebenzimmer. Ohne dass er es bemerkt. Weil jeder Raum um ihn herum bis zur Decke mit seiner eigenen Trauer gefüllt ist, mit seinem Schmerz. Bis sie sich eines Tages ganz überraschend zeigt, die andere.  

Denn so ist das mit der Trauer. Da wo sich die eine zeigt, traut sich auch die andere gern aus ihrem Versteck.  

Und dabei lernt Prometheus eine schmerzliche Wahrheit: 

“Nichts und niemand kann diesen Verlust ersetzen, nichts kann den Schmerz verschwinden machen. Die einzige Chance ist zu lernen, mit dem Schmerz und der Trauer zu leben. Doch irgendetwas bleibt immer in einem beschädigt.” (S. 212) 

Und was er noch lernt, ist, dass Mauersegler wirklich etwas Besonderes sind. Und dass man sich vielleicht, vielleicht ja sogar etwas von ihnen abschauen kann.  

“Weißt du was das Besondere an Mauerseglern ist? (...) Mauersegler haben Füße, die nicht für das Laufen auf dem Boden ausgerichtet sind. In der Luft sind sie graziös und fliegen so elegant daher, aber am Boden sind sie verloren. Wenn ein Mauersegler landet, kann er auch wieder selbst starten. Viele Menschen sagen, dass ein Mauersegler, sobald er einmal gelandet ist, nicht mehr abheben kann, doch das ist Unsinn. (...) Es sei denn, der Mauersegler ist geschwächt. (...) Ein geschwächter Mauersegler kommt allein nicht mehr hoch, ist er einmal abgestürzt. Man muss ihn in die Luft werfen, dann kann er weiterfliegen.” (S. 222f.) 

Ich kann die Begegnung mit den Mauerseglern jedenfalls sehr empfehlen – auch wenn sie keine leichte Abschalt-Lektüre mitbringen. Aber Vorsicht! Es könnte passieren, dass sie sich ein kleines Nest in deinem Herzen bauen, um dort für länger zu bleiben. 


Hier findest du "Der Mauersegler" von Jasmin Schreiber bei Thalia.*

 

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Carolin Junge 

Caro ist ein kreatives Mastermind mit ganz viel Herz, das ganz besonders laut für Bücher schlägt. Da kommen mal locker 50 gelesene Bücher im Jahr zusammen – nur noch getoppt vom Stapel ungelesener Bücher, der einfach nicht aufhören will zu wachsen. Mit ihrem Unternehmen oh boy! und als Fachbuch-Autorin hat sie sich im Branding & Storytelling einen Namen gemacht. Als ausgebildete Trauerbegleiterin (VMN) hat sie außerdem das Büro Ciao gegründet, einen Creative Space in Sachen Trauer. Damit bringt sie frischen Wind und mehr Awareness in die staubtrockene Trauerkultur. Mit ganz neuen, kreativen Trauerprojekten holt sie das Tabu-Thema unter dem viel zu hohen Teppich hervor (Stay tuned!) und bringt Menschen dort mit Tod und Trauer in Berührung, wo es auf den ersten Blick "eigentlich gar nicht hingehört".

     

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