Caro liest laut: 22 Bahnen & Windstärke 17 von Caroline Wahl - Vergiss Mein Nie

Caro liest laut: 22 Bahnen & Windstärke 17 von Caroline Wahl

Die Bücher: 22 Bahnen & Windstärke 17 von Caroline Wahl

Das Trauer-Thema: Vortrauer, Verlust eines Elternteils

Trauer-Barometer: 2/5 (22 Bahnen) und 17/17 (Windstärke 17)

 

Kennt ihr diese Bücher, die man in einem Rutsch durchliest, weil Weglegen keine Option ist? Die man nach der letzten Seite mit Nachdruck zuklappt und weinen möchte, weil so etwas Schönes vorbeigehen kann? Bei denen man wünscht, man könnte sie noch einmal zum ersten Mal lesen. Na prima, Caroline Wahl beschert uns diesen emotionalen Ausnahmezustand gleich im Doppelpack. Mit “22 Bahnen” und dem Nachfolger “Windstärke 17” hat die Autorin zwei stürmische Geschichten rausgehauen, Figuren erschaffen, die so nah gehen, dass es wehtut und gleichzeitig glücklich macht. (Achtung, Spoiler Alert in diesem Text!)

An der Seite der zwei Schwestern Tilda und Ida leben wir einen intensiven Alltag. Und zwischen ihnen lebt die Trauer. Im ersten Buch duckt sie sich geschickt zwischen die Zeilen, um uns im zweiten Buch mit voller Wucht um die Ohren zu fliegen.

 

22 Bahnen

Im ersten Buch "22 Bahnen"* erleben wir, wie die große Schwester Tilda ihre Lebensrealität zwischen Studium und Nebenjob meistert. So weit, so normal. Wäre da nicht diese große Verantwortung, mit der Tilda jeden ihrer Wege geht. Das Wissen um die alkoholkranke Mutter zu Hause und die kleine Schwester Ida, die sie mit all ihrer Kraft, ihrem Mut und ihrer Liebe beschützt. Einer der wenigen Orte, an dem Tilda ihre Schultern von dieser bedrückenden Last befreien kann, ist dort, wo sie wortwörtlich in die Schwerelosigkeit eintauchen kann. Im Freibad. 22 Bahnen lang schwimmt Tilda sich frei von der bedrückenden Last, die sie ihren Alltag nennt.

 

“Als ich endlich im nach Chlor, Sonnencreme und Rasen riechenden Schwimmbad bin, reiße ich das verschwitzte Kleid vom Leib, als ob es brennen würde, schmeiße meine Sachen auf Ursulas Bank, und das Wasser, in das ich mich ungeduscht fallen lasse, schmiegt sich um meinen erschöpften Körper und wäscht das Chaos, das ich ausgeschwitzt habe, von meiner Haut.” (S. 53)

 

Aber wo steckt hier die Trauer? Sie versteckt sich geschickt. Für ungeübte Augen und Ohren vielleicht gar nicht so leicht zu entdecken, ist sie doch dauerpräsent. Wie denn auch nicht?

Zwei Mädchen leben mit ihrer alkoholkranken Mutter zusammen. Sie sind dabei mehr auf sich gestellt als auf ein stabiles Familiengerüst. Und sie bemühen sich, in diesem Lebensmodell, das keine von ihnen freiwillig gewählt hätte, zu bestehen. Da ist Trauer vorprogrammiert. 

Trauer um ein Familienleben, einen normalen Alltag, der für sie viel zu weit entfernt ist, als dass sie davon träumen könnten. Trauer um eine Mutter, die an sich selbst verloren gegangen ist. Um eine Mutter, die nicht da ist, wie eine Mutter da sein sollte. Trauer um das, was da mit voller Wucht auf sie zurollt. Um eine Mutter, von der sie nicht wissen, wie lange sie in ihrer Abwesenheit noch da sein wird. Trauer um das, was absehbar völlig verloren sein wird.

 

“Ich höre Ida Wörter sagen, die ein Kind nie sagen sollte, nicht nur ich habe mich vorbereitet” (S. 137)

 

In solchen Zusammenhängen wird die Trauer oft nicht als solche erkannt und benannt. Was sie nicht weniger real macht. Erlebte Trauer um das Gegenwärtige meets Vortrauer um das, was es absehbar zu verabschieden gilt.

 

“(...) schaue hoch und sehe das Gesicht der Mutter. Sie lächelt mich freundlich an. Neben ihr steht ein kleiner Junge mit einer angegessenen Wurstscheibe in der Hand. Wenn er wüsste, was er für ein Glück hat.” (S. 97)

 

Windstärke 17

Und plötzlich ist im zweiten Teil "Windstärke 17"* all das, was im ersten Roman schon mitschwang, Realität geworden. Die Mutter ist tot. Ida konnte sie nicht retten. Und befindet sich mittendrin in diesem strudeligen Ausnahmezustand, der sich Trauer nennt – völlig unerheblich, wie vorhersehbar dieses bittere Ende vielleicht war. 

Ida macht erstmal das Naheliegende. Sie versucht vor der Trauer wegzulaufen. Wohin? Natürlich zum Wasser. Das kennt sie als Zufluchtsort, also verschlägt es sie nach Rügen. Dorthin, wo die Ostsee nicht bloß Wasser ist, sondern anziehende und treibende Kraft. Die unbändige Wut auf das Geschehene nimmt sie mit, genauso wie große Schuldgefühle. Die wollten nicht zurückbleiben. Denen war es wichtig mitzukommen. 

Ich kann nicht anders, als Idas Emotionen mit jeder Faser meines Körpers mitzufühlen. Und denke immer wieder: Wenn sich das so beim Lesen anfühlt, wie kann sie das aushalten?

Während sie Wut und Schuld Huckepack trägt, beklemmend eng an sich geschmiegt, durchlebt Ida die Trauer in all ihren Facetten. Intensiv. Fast nicht auszuhalten intensiv. Denn Caroline Wahl schickt uns da erbarmungslos mit rein.  Da ist kein Abstand mehr zwischen ihr und mir. Wir müssen da gemeinsam durch. Seite für Seite. Seite an Seite.

 

“Ich will zu Tilda, aber ich kann nicht. Ich will allein sein, aber ich will nicht allein sein.” (S. 70)

 

Die Trauer zerrt an uns. Drückt auf unsere Körper. Nimmt ihnen jegliches Gewicht, um uns mithilfe der Schwerkraft auf dem Boden zu halten. Mit der vielleicht hässlichsten Fratze, die sie im Repertoire hat: ein Wirrwarr aus Gefühlszuständen, die sich gegenseitig ausloten und torpedieren wollen, die jegliche Nachvollziehbarkeit völlig unmöglich machen. Was kann man sich denn an diesem Punkt noch selbst glauben? Gefühlt machtlos, weil man keine Ahnung hat, was als Nächstes kommt. Welcher Irrsinn sprudelt als Nächstes heraus? Wie viele Emotionen kann es denn eigentlich geben, die alle gefühlt werden wollen? Immer dabei das Wasser. Wie schon im ersten Band. Nur ist es jetzt nicht mehr das Freibad mit seinen strukturierten 22 Bahnen, sondern die Ostsee. So unberechenbar, wie Ida sich manchmal fühlt.

 

“Ich gehe barfuß in den nassen Sand, und irgendwann liegt sie dann ganz still direkt vor mir. Die Ostsee. Glatt und gefährlich friedlich. Ich traue mich nicht, in sie hineinzurennen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie voller Gift wäre oder ein Seeungeheuer unter der glänzenden Oberfläche auf mich warten würde. Aber dann soll es eben so sein, denke ich und laufe langsam in das eiskalte Wasser, Schritt für Schritt spüre, wie sich die Kälte durch meinen Körper nach oben frisst, und warte auf das Ungeheuer, das mich töten will, ich tauche ein, ich tauche ab. (...) Die Gedanken und der Schmerz laufen aus meinem Körper raus, rein in die stille Ostsee, und ich frage mich, ob sie jetzt laut ist und schreit.” (S. 89)

 

Wenn die Beaufort-Skala Windstärke 12 als Orkan betitelt – mehr geht nicht – was macht dann Windstärke 17 mit einem Menschen? Caroline Wahl beschreibt es uns. Ida muss es durchleben. Durchgerüttelt in einem Ausmaß, das über schwere Verwüstungen weit hinausgeht.

Ich denke, es ist offensichtlich: Ich bin ein absolutes Caroline Wahl-Fangirl. Aber hey, wie sollte man das denn nicht sein?


Hier kannst du dir "22 Bahnen" und "Windstärke 17" von Caronlie Wahl bei Thalia ansehen.*

 

*Transparenz-Hinweis: Der Link mit dem Sternchen ist ein Affiliate-Link. Wenn du darüber etwas kaufst, unterstützt du unsere Arbeit ein kleines Stück – ohne Mehrkosten für dich. Danke dafür.

 

Weitere Buchempfehlungen: 

Caro liest laut: Wenn Papa jetzt tot ist, muss er dann sterben?

Caro liest laut: Bye. Wie sprechen von Tod, Abschied und dem, was bleibt

Caro liest laut: Der Mauersegler von Jasmin Schreiber

 

       

Carolin Junge 

Caro ist ein kreatives Mastermind mit ganz viel Herz, das ganz besonders laut für Bücher schlägt. Da kommen mal locker 50 gelesene Bücher im Jahr zusammen – nur noch getoppt vom Stapel ungelesener Bücher, der einfach nicht aufhören will zu wachsen. Mit ihrem Unternehmen oh boy! und als Fachbuch-Autorin hat sie sich im Branding & Storytelling einen Namen gemacht. Als ausgebildete Trauerbegleiterin (VMN) hat sie außerdem das Büro Ciao gegründet, einen Creative Space in Sachen Trauer. Damit bringt sie frischen Wind und mehr Awareness in die staubtrockene Trauerkultur. Mit ganz neuen, kreativen Trauerprojekten holt sie das Tabu-Thema unter dem viel zu hohen Teppich hervor (Stay tuned!) und bringt Menschen dort mit Tod und Trauer in Berührung, wo es auf den ersten Blick "eigentlich gar nicht hingehört".

     

Einen Kommentar hinterlassen

Bitte beachte, dass Kommentare genehmigt werden müssen, bevor sie veröffentlicht werden.

Diese Website ist durch hCaptcha geschützt und es gelten die allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von hCaptcha.